Dienstag, 7 November, 2017
Bedingungslose Akzeptanz – Das Paradox der Veränderung
Unter Hypnose kann ich mir etwas vorstellen. Aber was ist Gestalttherapie?“ Diese Frage wird mir oft gestellt, und es ist für mich nicht leicht, eine Antwort zu geben, in der in wenigen Worte erklärt wird, was Gestalttherapie ausmacht. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, hat sich auf die Frage einer Journalistin, was Gestalttherapie sei, geweigert, eine Antwort in
gelehrigen Sätzen zu geben. Stattdessen verwickelte er sie in eine therapeutische Situation betreffend ihrer Flugangst. Perls Vorgehen verstehe ich gut: Denn das, was man nur erklärt bekommt, birgt die Gefahr, es als reines Faktenwissen aufzunehmen, ohne es erlebt und gefühlt zu haben. Um etwas über die Ebene des analytischen Verstandes hinaus zu begreifen und leichter umsetzen zu können, muss man es als Erlebnis erfahren.
Leider bin ich, wenn ich hier schreibe, darauf angewiesen, Worte zu benutzen, um zu erklären, was Gestalttherapie ausmacht. Um ein Missverständnis vorweg zu nehmen: Gestalttherapie hat primär nichts mit Gestalten im Sinne von Malen oder Basteln zu tun. Das Wort „Gestalt“ wird in Anlehnung an die Gestaltpsychologie benutzt, die menschliche Wahrnehmung als Fähigkeit erklärt, Strukturen und Ordnungsprinzipien in Sinneseindrücken zu finden.
Hier im Rahmen dieses Blog-Artikels die Theorie und die Prinzipien der Gestalttherapie sowie das Vorgehen und die Methoden eines Gestalttherapeuten zu erklären, würde sicherlich den Rahmen sprengen. Deshalb habe ich mich entschieden, heute nur einen Aspekt aufzugreifen und ein paar Worte über das „Paradox der Veränderung“ zu schreiben. Ich tue das deshalb, weil das Paradox der Veränderung vor allem die innere Haltung eines Gestalttherapeuten beeinflusst, die sich vielleicht in besonderer Weise von der Haltung der Therapeuten anderer psychotherapeutischer Richtungen wie Psychoanalyse oder Verhaltenstherapie unterscheidet.
Das Paradoxon der Veränderung besagt, dass Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist und nicht, wenn er versucht, zu werden, was er nicht ist.
Gestalttherapeuten nehmen an, dass die Schwierigkeiten, die einen Menschen dazu veranlassen, in die Therapie zu kommen, unter anderem daraus resultieren, dass er sich in einem inneren Konflikt zwischen zwei oder mehreren sich widersprechenden Bedürfnissen befindet. Um mit Goethe zu sprechen: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen.“ Indem ich als Therapeut helfe, sich dieser unterschiedlichen, oft unbewussten Aspekte seiner Persönlichkeit bewusst zu werden und ihnen Ausdruck zu verleihen, schaffe ich Akzeptanz. Ich lehne die widersprüchliche Persönlichkeit eines Menschen nicht ab, sondern begreife und würdige sie als Anpassungsleistung auf die Schwierigkeiten des Lebens. Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass ich den Wunsch nach Veränderung nicht genauso akzeptiere. Doch oftmals wird im Laufe der Psychotherapie deutlich, dass die innere Ablehnung bestimmter Persönlichkeitsaspekte und die daraus erwachsende Scham einen Menschen daran hindert, im Einklang mit sich selbst zu leben und zufriedenstellende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Er steht sich quasi selbst im Weg. Aus der Haltung des Respekts und der Akzeptanz heraus erwächst paradoxerweise die Lösung vieler Probleme wie von selbst. Dadurch, dass der Klient erlebt, was es heißt, bedingungslos akzeptiert und wertgeschätzt zu werden, kann er auch eine bedingungslos wertschätzende Haltung gegenüber seinen widersprüchlichen und zuvor abgelehnten Persönlichkeitsaspekten annehmen. Aus bedingungsloser Akzeptanz erwächst Selbstliebe – und Liebe verleiht Flügel.
Zum weiterlesen:
Arnold Beisser: „Wozu brauche ich Flügel?: Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter“
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