Samstag, 15 August, 2020
Psychotherapie – nur scheinbare Wirkung?
Placebos sind Scheinmedikamente, also Pillen, die keine medizinisch wirksame Substanz enthalten. Dass Placebos wirken, ist unter Forschern, Ärzte und Psychotherapeuten unbestritten. Mit einer kleinen Zuckerpille ohne Wirkstoff kann die alte Dame im Pflegeheim, die unter Einschlafschwierigkeiten litt, gut einschlafen. Das Kind, das in der Schule über
Bauchschmerzen klagte, hüpft nach einem „Bauchschmerzbonbon“ wieder quietschvergnügt über den Pausenhof. Der Studentin, die unter Prüfungsangst leidet, hilft die Einnahme von kleinen Zuckerkügelchen ohne Wirkstoff. Der Manager, der unter Rückenschmerzen litt, kann nach einer Placebopille seines Therapeuten wieder aufrecht gehen.
Doch wie kommt es, dass eine Arznei wirkt, obwohl kein Wirkstoff darin enthalten ist? Warum wirken Placebos auch bei Kleinkindern und Tieren? Muss man an die Wirkung von Placebos glauben? Beruhen Psychotherapie und Hypnose nur auf dem Placeboeffekt?
Selbsterfüllende Prophezeiung
Psychologen erklären die Wirkung des Placeboeffekts über die Zusammenwirkung verschiedener psychologischer Effekte. Zum einen spielt die Erwartungshaltung des Patienten eine wichtige Rolle. Der Glaube, dass es ihm nach der Behandlung besser geht, wirkt als eine sich selbst erfüllende Prophezeihung.
Warum wirken Placebos auch bei Kleinkindern und Tieren?
Da sich die Bezugspersonen, also z.B. die Eltern durch ihre Besserungserwartung anders gegenüber ihrem Kind verhalten, überträgt sich der Placeboeffekt auf das Kind. Gleiches gilt für Tierhalter und Tier.
Die Zeit heilt alle Wunden – Regression zur Mitte
Es gibt noch eine Reihe anderer Effekte, welche die Placebowirkung erklären. Psychologen kennen das Phänomen der „Regression zur Mitte“. Man greift meist dann zu einem Medikament, wenn es einem schlechter als gewöhnlich geht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das subjektive Befinden nach einem Tiefpunkt wieder in Richtung durchschnittlicher Befindlichkeit bewegt, ist außerordentlich groß. Zeit heilt sprichwörtlich alle Wunden. Die Besserung tritt also oft auch ohne die Einnahme eines Medikaments auf. Doch mit einem Placebo fühlt man sich weniger ausgeliefert. Man hat den Eindruck, etwas tun zu können. Deshalb erscheint mit einem Placebo die Zeit bis zum Eintritt der Besserung kürzer und besser aushaltbar.
Placeboeffekt ist also nur Einbildung?
Nein! Denn der Körper schüttet z.B. nach Einnahme eines Schmerz-Placebos tatsächlich körpereigene Opiate, also körpereigene Schmerzmittel aus. Außerdem kann man die Wirkung von Placebos erlernen. Psychologen nennen das „Konditionieren“. Das bedeutet, dass eine körperliche Reaktion mit der Gabe eines Medikaments verknüpft werden kann. Angenommen, Sie nehmen immer dann, wenn es ihnen schlecht geht, Zuckerkügelchen. Aufgrund der oben beschriebenen“Regression zur Mitte“ geht es Ihnen nach kurzer Zeit wieder besser. Sie lernen dabei, dass sich Ihr Befinden jedes Mal, wenn Sie solche Zuckerkügelchen einnehmen, bessert. Mit der Zeit reagiert Ihr Körper messbar schneller und zuverlässiger auf die Einnahme der Zückerkügelchen, weil er diese mit einer Heilung in Zusammenhang bringt.
Helfen Placebos nur, wenn man an eine Wirkung glaubt?
Placebo-Pillen helfen auch, wenn Placebo drauf steht. Forscher fanden in Studien an Patienten mit Migräne und Reizdarmsyndrom heraus, dass auch „offene Placebos“ eine Besserung erzielten. Die Probanden wussten, dass sie ein Scheinmedikament erhielten.
Sind Hypnose und Psychotherapie nur Placebos?
Forscher konnten nachweisen, dass ein gutes Verhältnis zwischen Arzt und Patient die Wirksamkeit von Arzneimitteln verstärkt. Gleiches gilt für intensive Gespräche, in denen sich der Patient wertgeschätzt und verstanden fühlt. Nicht nur ein Medikament oder eine Behandlung heilt, sondern tatsächlich auch der Therapeut bzw. die Beziehung zwischen Arzt oder Psychotherapeut und Patient. Deshalb wird in der beziehungsorientierten Psychotherapie auf das Zwischenmenschliche als Heilungsfaktor besonderes viel Wert gelegt. Sie sollen sich als Person angenommen und verstanden fühlen. Psychotherapie und Hypnose geben den Anstoß zur Aktivierung von Selbstheilungskräften. Die Heilung aber kommt von innen aus Ihnen selbst.
Nach Auffassung von Placeboforschern beruht der Placeboeffekt auf Ritualen, Symbolen und Zeichen der „therapeutischen Begegnung“. Ähnliches lässt sich über Psychotherapie und Hypnose sagen. Sind Psychotherapie und Hypnose also „nur“ eine Placebotherapie? Ja, denn sie vertrauen – unter anderem – auf Wirkmechanismen, die bei Placebos eine Rolle spielen. Und nein, nicht „nur“. Dann nicht, wenn das Wörtchen „nur“ abwertend gemeint ist. Denn der Placeboeffekt darf nicht unterschätzt werden. Fachkundig und bewusst angewandt kann er gezielt genutzt werden, um heilende Wirkungen zu erzielen. Und im Gegensatz zu manchen anderen „alternativen“ Heilverfahren ist bei Psychotherapie und Hypnose genau das drin, was drauf steht. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Zum Weiterlesen:
- Pahud, Leonie: Pillen, die ohne Wirkstoff heilen; higgs.ch; 10.02.2020. Eingesehen am 15.08.2020.
- Zillekens, Janina: „Ich will die Homöopathie ja niemandem wegnehmen“; focus.de; 19.02.2020. – Eingesehen am 15.08.2020.
- Lubbadeh, Jens: So wirken Placebos bei Tieren; spiegel.de; 11.06.2014. – Eingesehen am 15.08.2020.
- Regression zur Mitte; wikipedia.de – eingesehen am 15.08.2020.
- Hollersen, Wiebke: Selbst wenn Placebo drauf steht, helfen die Pillen; welt.de; 05.08.2015. Eingesehen am 15.08.2020.
- Video: Mai-Thi; 5 Missverständnisse über den Placeboeffekt; 24.08.2019 – eingesehen am 15.08.2020.
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